„Darüber zu reflektieren, was unsere Identität ausmacht“. Ein Beitrag von Agnieszka Kowaluk

„Gut gepolt!“ – eine Lesereihe mit polnischen Autoren im Muffatwerk – lief schon einige Jahre, als mir mit dem Buch „Gottland“ von Mariusz Szczygieł die Idee einer „EU-(Ost)Erweiterung“ kam. Da es das Buch sowohl auf Polnisch, Deutsch, aber auch auf Tschechisch gab und es darin um Polens südlichen Nachbarn ging, war es naheliegend, die Münchner Tschechen zur Organisation einer gemiensamen Lesung einzuladen. Die damalige Leitern des Tschechischen Kulturzentrums, Zuzana Jürgens, fand die Idee gut. So ist es zum ersten Mal zu einer dreisprachigen Veranstaltung gekommen. Seitdem organisierten wir zusammmen schon einige deutsch-tschechisch-polnische Lesungen in München. Sie sind immer kleine, mitteleuropäische Gipfeltreffen mit hervorragenden Autoren und zeigen jedes Mal, auf wie viele Weisen sich Schnittstellen zwischenunseren Kulturen offenbaren. Was auf der Bühne passiert, hängt auch davon ab, wie gut sich die Protagonisten des Abends verstehen – auch durchaus im wörtlichen Sinne. Interessanterweise gibt es oft nicht nur Übersetzungen aus beiden Sprachen ins Deutsche, sondern auch polnische Übersetzungen der tschechischen Autoren sind nicht selten. Das ist ein zusätzlicher Anreiz für das polnischsprachige Publikum, viele versuchen dann, sich die polnische Version des tschechischen Werks zu besorgen. Ein interessantes Karusell der Sprachen, das sich bei uns auf der Bühne dreht.

Brygida Helbig, Quelle: Muffatwerk

Brygida Helbig, Quelle: Muffatwerk

 

Dieses Mal haben wir die große Ehre und Freude zwei renommierte Schrifsteller
zu präsentieren: Brygida Helbig, Autorin von u.a. „Ossis und andere Leute“ und
„Niebko“ (zu Deutsch: Himmelchen), beide im Finale wichtiger polnischer
Literaturpreise (Gryfia und Nike) und Tomas Zmeskal, der „Liebesbrief in
Keilschrift“ vorstellen wird; auch das Buch fand sich – in polnischer
Übersetzung – im Finale eines wichtigen europäischen, in Polen verliehenen
Preises, des Angelus-Preises.

Tomáš Zmeškal, Quelle: Muffatwerk

Tomáš Zmeškal, Quelle: Muffatwerk

Wie unterschiedlich die Bücher unserer Gäste sein mögen, es eint sie das
Leitmotiv der Identität. Beide Autoren wurden in den sechziger Jahren geboren
und gehören zu der Generation, die zwar keinen Krieg mehr erlebt hatte, die
aber mit seinen Folgen aufwachsen musste. Die  kommunistischen totalitären
Regime sowohl in Polen als auch in Tschechien mischten sich in das Leben der
Familien, in das Leben jedes einzelnen ein. Die Protagonisten von Zmeškal und
Helbig wandern nicht nur zwischen kulturellen Identitäten, sondern auch
zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Ihre untypische Herkunft (die
kongolesischen Tschechen, die polnischen Deutschen) bestimmt ihr Schicksal.

Wir erleben gerade ungemein interessante Zeiten. Es kommen viele Menschen nach
Deutschland, die ein Teil dieser Gesellschaft werden. Darüber zu reflektieren,
was unsere Identität ausmacht, was unser Leben bestimmt, lohnt immer.
Literatur, die sich mehr um Einzelschicksale kümmert, als dass sie
Gesamtanalysen liefert, ist eine kaum zu überschätzende Hilfe hierzu.


Agnieszka Kowaluk

Agnieszka Kowaluk

Agnieszka Kowaluk ist Übersetzerin deutscher Literatur (Elfriede Jelinek, Wolfgang Herrndorf, Hans-Ulrich Treichel, Marlene Streeruwitz u. a.), außerdem freie Journalistin und Redakteurin für polnische und deutsche Medien (u. a. Kolumne in der Süddeutschen Zeitung). Geboren in Ostpolen, hat sie an den Universitäten Warschau und Bonn Germanistik studiert. Sie ist Initiatorin der Münchner Veranstaltungs-Serie „Gut gepolt!“, die seit einigen Jahren polnische Autoren dem deutschen Publikum präsentiert. Sie lebt mit ihrer Familie in München.

 


Gut gepolt und geczecht II mit Brygida Helbig, Tomáš Zmeškal am Di 07.06.16

Einlass: 19:30Uhr, Beginn: 20Uhr
Ort: Ampere
VVK € 8 zzg. Gebühren AK € 10
Veranstalter: Muffatwerk, Slavisches Seminar der Universität Tübingen, Tschechisches Zentrum München, Generalkonsulat der Republik Polen und Instytut Książki. Mit freundlicher Unterstützung durch das Kulturministerium der Tschechischen Republik

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Ahoj-Ausflug, Porträt von Natalia. Permanenter Link des Eintrags.

Über Natalia

Natalia Garbacz Nachdem sie 2004 ihr familäres Nest in Warschau verließ, brach sie nach Deutschland auf. Sie nahm ein Studium der Theaterwissenschaften in Erlangen auf, welches sie später in München abschloss. Den Ahoj-Nachbarn-Verein nahm sie von Nürnberg nach München mit und ist seither grenzenlos stolz darauf, dass er Schöpfer solch toller Projekte wie dem polnischen Filmfestival Cinepol oder des osteuropäischen Stadtführers Ahoj Minga geworden ist. Ehemalige Vorsitzende des Vereins Ahoj Nachbarn (2007-2013, 2013-2015).