„Die Jakobsbücher“ von Olga Tokarczuk

Ahoj-Mitglied Katrin Hillgruber hat über den Roman der polnischen Nobelpreisträgerin eine spannende Rezension verfasst, die wir euch nicht vorenthalten wollen:

Tollkopf oder Heiliger

Roadmovie über einen Ketzer:
Olga Tokarczuks Roman „Die Jakobsbücher“ ist eine Lektüre für Liebhaber

Etwas verschlafen wirkt das westukrainische Brody heutzutage, von seiner bewegten Geschichte lässt es nur wenig erahnen. In der Geburtsstadt des Schriftstellers Joseph Roth, dessen Statue vor dem Gymnasium thront, endete einst das Eisenbahnnetz der österreichischen Kronprovinz Galizien, denn hier verlief die Grenze zum russischen Reich. Die Alte Synagoge, einst Lebensmittelpunkt der jüdischen Bevölkerungsmehrheit, besteht nur noch aus einer riesigen Ruine, in der Bäume wachsen. Die Stadt Brody spielt in Olga Tokarczuks Roman „Die Jakobsbücher“ eine wichtige Rolle. Denn im Jahr 1756 wurde dort über Jakob Joseph Frank, den Helden ihres 1200-Seiten-Roadmovies, der Bann verhängt. Für Kaiserin Maria Theresia steht fest: „Doch wuszte dieser vom Satan besessene Mann die Menschen zu umgarnen.“ Das „sz“ ist eines der Stilmittel, das die Übersetzer Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein verwenden, um dem Roman Patina zu verleihen.

Der Ortsrabbiner von Brody hatte veranlasst, dass der selbsternannte Messias Frank wegen angeblichen Ketzertums und seines ausschweifenden Lebenswandels angeklagt und verhaftet wurde. „Frank stützte sich auf auf popularisierte kabbalistische Ideen der Sabbatianer und der Seelenwanderung, verkündete Lebensfreude und Verbindung mit Gott durch Ekstase“, vermerkt das von Julius Schoeps herausgegebene „Neue Lexikon des Judentums“. Frank und die Seinen wollten sich von den Vorschriften des Talmud befreien und strebten ein freieres Leben an, für Olga Tokartschuk eine Art Idealgesellschaft, in der es „ohne Bedeutung war, wer Mutter oder Vater, Tochter oder Sohn, wer Frau, wer Mann. Denn wir unterscheiden uns nicht wesentlich. Wir alle sind Formen, die das Licht annimmt, sobald es die Materie streift.“

Nach mehreren Disputationen, die der „Contratalmudist“ gegen die Orthodoxen zunächst erfolgreich bestand, erkannte die katholische Kirche den zunehmenden Sektencharakter der sogenannten Frankisten. Dabei war Frank mit seiner Anhängerschaft zum Christentum übergetreten und wurde 1759 mit dem polnischen König als Paten getauft. Doch das hinderte ihn nicht daran, sich weiter als Messias feiern zu lassen und als Alchemist zu betätigen.

1760 wurde der von seinen Zeitgenossen als ausgesprochen charismatisch beschriebene Freigeist auf Anordnung der Kurie im Kloster auf dem Klarenberg in Tschenstochau interniert. Als die Stadt 1772 bei der ersten polnischen Teilung an Russland fiel, kam er frei und konnte sein legendenumwobenes Lebenswerk erfolgreich fortsetzen. Der 1726 als Sohn eines jüdischen Buchbinders im podolischen Korólówka (heute Borschtschiw in der Westukraine) geborene Jakub Leibowicz Frank starb am 10. Dezember 1791 im Kreise seines eigenen Hofstaats in Offenbach. Die Sekte wurde von seiner Tochter Ewa weitergeführt, der Tokartschuk ein Verhältnis mit Joseph II. andichtet, Sohn der Kaiserin Maria Theresia. Diese wiederum empfängt den weitgereisten Jakob Frank regelmäßig in ihrem Schönbrunner Schloss zu Plaudereien darüber, „ob das Klima in Stanbul angenehmer ist als in Wien, und warum diese Menschen Katzen den Hunden vorziehen. Mit eigener Hand gießt sie ihm aus einer zierlichen Kanne Kaffee nach, mit Milch soll er ihn trinken, so will es die neueste Mode.“

Olga Tokarczuk lässt die wundersame Lebensgeschichte ihres Helden von Mitgliedern seiner „Compagnie“ erzählen: „Wer so unverständig sich gebart wie Jakob auf seiner Reise zum Grab des Propheten Nathan, der musz ein Tollkopf sein oder ein Heiliger.“ Dennoch begleiten sie ihn treu auf dem Weg durch die Rzeczpospolita Polen-Litauen, das Osmanische Reich (wo Frank zum Islam konvertiert), das Habsburgerreich, das Königreich Böhmen und Mähren und schließlich ins Heilige Reich Deutscher Nation. Der engste Gefährte Piotr Jakubowski alias Nachman ben Samuel Lewi notiert über die letzte Station in Offenbach, wo Frank sich den Titel eines Barons zulegte: „Gestützt von zwei gestandenen Mannsbildern, den Kopf unter einer großen Kapuze verborgen, betritt er unter Mühen das Gotteshaus und bleibt dort eine Weile. […] Alle Gardisten in ihren papageienbunten Uniformen […] müssen diesem Schauspiel den Rücken zukehren, sie haben nun den ruhig dahinströmenden Main vor Augen und die Segel der Schiffe, zart wie Libellenflügel.“ An dieser Stelle zeigt sich Olga Tokartschuks Methode, historisch verbürgte Tatsachen, die sie rund zehn Jahre lang recherchiert hat, mit poetischen Einfällen zu sublimieren. Ganz in den magischen Realismus hebt der Roman ab, sobald die Seherin Jenta ins Spiel kommt, Jakobs Großmutter, die alle Zeiten überblickt. Auch auf diesen Tonfall eines raunenden Matriarchats muss man sich bei der Lektüre einlassen wollen.

1866 wird der städtische Offenbacher Friedhof verlegt und die Gebeine der „Neophyten“ und ihres Anführers müssen ausgegraben werden. Als es um Franks sterbliche Überreste geht, nimmt Tokartschuks Tonfall wieder die Nüchternheit einer Chronik an: „Bei dieser Gelegenheit wurde auch der Schädel des Jakob Frank aus seinem Grab gehoben. Mit der Notiz versehen, dass es sich um den ‚Schädel eines jüdischen Patriarchen‘ handele, fand er sich in der Sammlung eines Offenbacher Historiographen wieder. Viele Jahre später gelangte er […] nach Berlin, wo er penibel untersucht und vermessen wurde. Nun galt er als Beweis der Unterlegenheit der jüdischen Rasse. Nach dem Krieg verlor sich seine Spur. Vielleicht hat eine Bombe ihn in Staub verwandelt, vielleicht blieb er erhalten und liegt bis heute im Kellergewölbe eines Museums.“

 

Neben „Deutschtümelei“ sind zwei weitere Topoi im nationalkonservativen Wunsch-Polen der PiS, das mit der Parlamentswahl vom Sonntag bestätigt wurde, besonders schlechtgelitten: Kritik an der als liberal und fortschrittlich verklärten polnisch-litauischen Adelsrepublik, die von 1386 bis 1772 existierte, sowie die Behauptung, auch in Polen habe es seit dem Mittelalter Pogrome gegen Juden gegeben. Bereits als sie 2015 den bedeutendsten nationalen Literaturpreis Nike für „Die Jakobsbücher“ („Księgi Jakubowe“) erhielt, wurde Tokartschuk als Vaterlandsverräterin beschimpft und bedroht. Mit ihrer gigantesken Lebensbeschreibung des Jakob Frank, mit der sie en passant eine Mentalitätsgeschichte des 18. Jahrhunderts vorlegt, geißelt die Autorin die glorifizierte Rzeczpospolita als repressiven Feudalstaat. Und auch die christlichen Pogrome an den Juden schildert sie ausführlich:  „Tschenstochau selbst […] füllt sich nach und nach mit jüdischen Flüchtlingen aus Podolien; dort ist der Hajdamaken-Aufstand ausgebrochen, die ersten Pogrome wüten. Die Flüchtlinge zieht es an den heiligen Ort der Christen, im Glauben, hier seien sie sicher vor der Gewalt, zumal sie sich geborgen fühlen dürfen unter den Fittichen des angeblichen Messias in seiner Klosterhaft. Schreckliche Geschichten bringen sie mit, von den aufgewiegelten Hajdamaken, die niemanden verschonen in ihrer Wut. Nachts ist der Himmel glutrot von der Lohe der brennenden Dörfer.“

Der reich illustrierte Roman in sieben Büchern ist als Hommage an hebräische Schriften rückwärts numeriert, was die Lektüre nicht unbedingt erleichtert. Er nötigt einerseits große Bewunderung ab, nicht zuletzt durch die heroisch zu nennende Leistung der Übersetzer Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Andererseits dürften „Die Jakobsbücher“ nur für Religionswissenschaftler beziehungsweise Judaisten auf Anhieb verständlich sein. Allen anderen sei ein gerüttelt Maß an Geduld angeraten. Es muss ja nicht gleich eine zweiwöchige Grippe sein, um Lesezeit zu gewinnen, wie Olga Tokartschuk am Vorabend der Nobelpreis-Verkündung ihren potentiellen Lesern empfahl. KATRIN HILLGRUBER

Olga Tokarczuk: Die Jakobsbücher. Roman. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Kampa Verlag, Zürich 2019. 1184 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, 42 Euro.