Frühlingsgöttin Polonia und das ukrainische Hirtenmädchen

Die Münchner HypoKunsthalle präsentiert mit „Stille Rebellen“ 130 der wichtigsten Gemälde Polens um 1900

Von Katrin Hillgruber

Edward Okuń Wir und der Krieg 1917–23 (Nationalmuseum in Warschau)

Das Gewissen der Nation trägt Rot. Jedes Schulkind in Polen kennt den Narren Stańczyk, dem der Historienmaler Jan Matejko 1862 seine eigenen Züge verlieh. Im feuerfarbenen Kostüm samt dreizipfliger Narrenkappe und einem Amulett der Schwarzen Madonna von Tschenstochau um den Hals sitzt Stańczyk  im Krakauer Schloss und blickt betrübt auf seine gefalteten Hände. Denn im Gegensatz zur ausgelassenen Hofgesellschaft sorgt sich der Patriot um sein Vaterland. Neben ihm liegt ein mit 1533 datiertes Schreiben, auf dem der Name der westlitauischen Landschaft Samogitia zu erkennen ist, damals Teil des 1386 gegründeten polnisch-litauischen Großreichs, das in Polen heute noch verehrt und verklärt wird. Assoziiert wird das Gemälde jedoch mit dem Verlust von Smolensk an das Großfürstentum Moskau im Jahr 1514, wie der lange Titel verrät: „Stańczyk während des Balls am Hofe der Königin Bona, als die Kunde vom Verlust von Smolensk eintrifft“. Die Münchner Ausstellung „Stille Rebellen. Polnischer Symbolismus um 1900“ verzichtet allerdings auf die Nennung der Titel im polnischen Original, was das historische Verständnis unnötig erschwert.

Jan Matejko Stańczyk 1862 (Nationalmuseum in Warschau)

„Stańczyk“ wurde im Zweiten Weltkrieg von den deutschen Besatzern geraubt, geriet nach Moskau und wurde erst 1956 an das Nationalmuseum in Warschau zurückgegeben. Dieser Umstand ist besonders pikant, da sich Polen ja stets und nicht ohne Grund von den beiden großen Nachbarn im Westen und Osten bedroht gefühlt hat. Ab der dritten Polnischen Teilung 1795 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918 war das Land praktisch von der Landkarte getilgt und unter Russland, Preußen und Österreich-Ungarn aufgeteilt. Umso wichtiger wurden die Künste – neben der Sprache und katholischen Religion – für die Aufrechterhaltung der nationalen Identität: „Was unsere Umgebung uns nicht geben kann, das sollte die Kunst uns gewähren“, schrieb Stanisław Wyspiański, Schöpfer des berühmten Krakauer Park-Panoramas „Planty“ und des für die polnische Literatur zentralen Theaterstücks „Wesele“ (Hochzeit). Darin wird unter der Beteiligung historischer Gestalten zum Volksaufstand aufgerufen, mit einem goldenen Horn, das als Symbol häufig in bildlichen Darstellungen der sagenhaften Jagiellonen-Könige auftaucht.

Matejko hatte ab 1858 an der Königlichen Akademie der Bildenden Künste in München studiert. Zwischen 1820 und 1914 zog es rund 300 polnische Künstler ins katholische „Isar-Athen“, vor allem Malerinnen und Maler wie Olga Boznańska – die gleich zwölf Jahre blieb und an der Art-Déco-Zeitschrift „Jugend“ mitwirkte – oder die Brüder Maksymilian und Aleksander Gierymski. Letzterer malte um 1890 die Ludwigsbrücke in einer blau-rosa-violetten Abenddämmerung, durch die schwarzgewandete Gestalten huschen. Boznańska ist mit drei Porträts in der HypoKunsthalle vertreten, darunter dem „Mädchen mit Chrysanthemen“: Die Züge des scheuen Kindes sind ähnlich diffus wie die fedrig-zarten Blüten. So ist es als eine Art später Heimkehr zu werten, dass der ikonische „Stańczyk“ nun mit dem ersten von zehn thematischen Räumen die spektakuläre Ausstellung in der Münchner Hypokunsthalle eröffnet. 

Jacek Malczewski Polnischer Hamlet. Bildnis des Grafen Aleksander Wielopolski 1903 (Nationalmuseum in Warschau)

130 der bedeutendsten Gemälde Polens sind in dieser Dichte erstmals in Deutschland zu sehen, viele von ihnen wurden noch nie im Ausland gezeigt. Darunter befindet sich der zum Briefmarken-Motiv geadelte „Polnische Hamlet“ des Matejko-Schülers Jacek Malczewski von 1903:  Es zeigt den Regierungschef Kongresspolens Wielopolski Blütenblätter zupfend zwischen einer gefesselten alten und einer befreiten jungen Polonia. Mit „Stille Rebellen“ dokumentiert die HypoKunsthalle einen blinden Fleck in der westlichen Wahrnehmung – von einem „peinlichen Manko“ spricht die Kuratorin Nerina Santorius. Auch Direktor Roger Diederen erschütterte es geradezu, dass er auf der Suche nach Leihgaben in keinem einzigen deutschen Museum fündig geworden sei. Das staatliche Adam-Mickiewicz-Institut in Warschau eilte im Verbund mit den Nationalmuseen in Warschau, Krakau und Posen tatkräftig zur Hilfe, diese Wissenslücke zu schließen. Für ihr Institut sei es die größte Kooperation in den 22 Jahren seines Bestehens, sagte die Direktorin Barbara Schabowska. Immerhin widmete die große binationale Ausstellung „Tür an Tür“ 2011 im Berliner Gropius-Bau den polnischen Künstlern in München ein Kapitel. 

Durch den russischen Überfall auf die Ukraine haben die „Stillen Rebellen“ eine traurige Aktualität erlangt. Denn auch dem besetzten Polen sprach Russland wie jetzt der Ukraine eine eigene kulturelle Identität ab; ab 1880 war in Verwaltungsdokumenten gar nur vom „Weichselland“ die Rede. Heute noch lässt sich an der Architektur polnischer Städte erkennen, zu welchem Staat sie während der 123-jährigen Besatzungszeit gehörten. Im russisch regierten Warschau ging es sehr viel strenger zu als im liberalen Krakau, wo unter anderem die „Kajzerki“-Semmeln vom österreichischen Erbe zeugen. 1830 und 1863 kam es in Kongresspolen zu Aufständen. 1864 wurde in Warschau die wesentlich von Wojciech Gerson geprägte Schule der Schönen Künste geschlossen, was viele Eleven ins Ausland aufbrechen ließ.  

Józef Chełmoński Altweibersommer 1875 (Nationalmuseum in Warschau)

Zu den „polnischen Münchnern“ zählt auch Józef Chełmoński, der die Landschaftsklasse von Hermann Anschütz belegte. Chełmońskis Gemälde „Altweibersommer“ von 1875 zeigt eine ukrainische Schäferin bei der Rast, während ihr schwarzer Hund Wache hält. Fröhlich betrachtet sie einen Flugfaden, der sich von dem gelben Stoff unter ihrem Kopf abhebt. Wegen seines „bäuerlichen“ Charakters war das Werk in der kommunistischen Volksrepublik besonders populär. 

Die „Stillen Rebellen“ schwanken zwischen zwei Polen: der Hinwendung zu heimischen, besonders urwüchsigen Landschaften wie der Tatra und zur Volksfrömmigkeit als spirituellen Kraftquellen sowie internationalen Einflüssen wie dem Pariser Japonismus oder der Décadence. Als besonders produktiv und vielseitig erweist sich Jacek Malczewski: Während sein Triptychon mit Jesus und zwei Landsleuten in sibirischer Verbannung für westliche Augen dem religiösen Kitsch gefährlich nahe kommt, überzeugt „Kunst auf dem Gutshof“ von 1896 durch synästhetische Originalität: Vor einer Schar Truthähne, die sich wie Noten aufreihen, tröstet ein Faun das weinende Bauernmädchen mit seinem Flötenspiel. 

Władysław Jarocki Helenka aus Poronin 1913 Nationalmuseum in Warschau

Eine Münchner Besonderheit war die „Stimmungslandschaft“, die von Symbolisten wie Arnold Böcklin und Franz von Stuck beeinflusst war. So schuf Julian Fałat imposante Schneepanoramen. Von  Ferdynand Ruszczyc sind eine beneidenswert freischwebende Wolke oder symbolistisch gedrungene „Alte Apfelbäume“ in düsteren Farben zu sehen. Die zahlreichen Porträts der schlafenden Herbst- und Winternatur standen für das seiner Befreiung harrende „Volk ohne Staat“. Mit der modernistischen Bewegung „Junges Polen“ (Młoda Polska) taute ab 1890 das Eis und es zogen übermütige Frühjahrsmotive in die Kunst ein: spielende Kinder, ekstatische Frauen, Faune, ein Ritter inmitten von Blumen. Was mit dem ernsten Narren Stańczyk beginnt, endet mit der fröhlich in die Lüfte aufsteigenden Polonia als Allegorie der souveränen Nation.

HypoKunsthalle München, bis 7. August (www.kunsthalle-muenchen.de).