Ihr sucht neuen Lesestoff für den Sommerurlaub? Da hilft Ahoj Nachbarn gern. Eine Empfehlung unserer Literaturkritikerin Iwona:
Dieses Jahr geht der hochdotierte internationale Man-Booker-Literaturpreis nach Polen. Die polnische Autorin Olga Tokarczuk und die US-amerikanische Übersetzerin Jennifer Croft teilen sich die Auszeichnung für den Roman „Bieguni“. Der wichtigste Literaturpreis Großbritanniens prämiert ausländische Werke, die ins Englische übersetzt wurden. Tokarczuk ist die erste Polin, die die renommierte Auszeichnung erhält. Die Jury lobte den „wundervollen Esprit, die Fantasie und die literarische Ausdruckskraft“ wie auch die Ironie der Autorin. Auf Deutsch ist das Buch unter dem Titel «Unrast» erschienen.
Ich habe „Unrast“ mehrmals gelesen, weil es kein richtiger Roman ist. Es ist ein sehr originelles und ungewöhnliches Buch, da es nicht eindeutig einem bestimmten literarischen Genre zugeordnet werden kann. Es besteht aus kürzeren und längeren Fragmenten, Essays, Kolumnen, Geschichten, Biographien und Anekdoten.
Im Buch dreht sich alles um das Reisen, aber dabei berührt es auch eine ganze Reihe anderer Aspekte. Es geht auch um Sprache, Liebe, Anatomie, Medizin, Bücher, Wissenschaft und sogar Wachsmodelle. Ich bin überzeugt, dass jeder hier etwas für sich finden kann. Das Buch regt zur Neugier an und und dazu, mehr wissen zu wollen.
Einige im Buch beschriebene Szenen bleiben lange im Kopf und zwingen zum Nachdenken.
Da ist die Geschichte eines Mannes, der seine Frau auf einer Insel verloren hat. Eine junge Frau, die an den Kaiser von Österreich schreibt, mit der Bitte, den Körper ihres Vaters an sie zu übergeben, der nach dem Tod als Wachsfigur öffentlich zur Schau gestellt wurde. Ebenso berührend ist die Geschichte eines allein lebenden Mannes, dem ein Bein amputiert wurde. Diese kleinen Geschichten machen das Buch lesenswert. Durch die Betrachtung verschiedener Aspekte der Reise, nicht nur im Wortsinn, sondern auch im übertragenen Sinne, kann man das Leben und sich selbst aus einer anderen Perspektive betrachten.
Das Buch kann nach dem Zufallsprinzip gelesen werden, es ist durch seinen fragmentarischen Aufbau nicht notwendig, es von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen. Das ist typisch für die Werke von Olga Tokarczuk. Ich lese sie oft und jedes Mal entdecke ich etwas Neues.
Kurz gesagt: „Unrast“ ist die beste Metapher für unsere moderne Zeit, die ich in der Literatur gefunden habe. Durch das scheinbare Chaos der Form beschreibt Tokarczuk das heutige Leben, die Eile und Informationsflut, mit der wir jeden Tag zu kämpfen haben. Von ganzem Herzen empfehle ich es jedem, dieses Buch zu lesen.